28 Jahre in St. Marien — vom jüngsten zum ältesten Pastor
Interview mit Horst Schlüter
28 Jahre als Pastor in Marien
1. In welchem Zeitraum waren Sie als Pastor in der Marienkirche tätig?
Von meiner Ernennung im März 1973 auf die 3. Pfarrstelle bis zu meinem Eintritt in den Ruhestand im Mai 2001 war ich 28 Jahre als Pastor in Marien tätig und habe als zuerst Jüngster und zuletzt Ältester in der Schar ehren- und hauptamtlicher Mitarbeiter die Geschichte der Mariengemeinde mitverantwortet.
2. Vor 50 Jahren, im Sommer 1974, hat die Mariengemeinde das 650-jährige Jubiläum der Kirchweih ebenfalls mit einer Festwoche gefeiert. Wie war die Gemeinde damals aufgestellt?
– Zahl der Pfarrstellen und Prediger
Die Gemeinde verfügte damals über 4 Pastoren mit den ihnen zugeordneten 4 Pfarrbezirken und über 2 Diakonenstellen. Die 1. Pfarrstelle war mit dem Superintendentenamt verbunden, sein Pfarrbezirk wegen der ephoralen Tätigkeit entsprechend der kleinste.
Da St. Marien auch Predigtkirche für das Landessuperintendentenamt ist, teilten sich 5 Prediger die Wochenschluss- und Sonntagsgottesdienste und verantworteten gemeinsam die vielen kasualbezogenen Gottesdienste und Feiern, die sich aus der Funktion und Bedeutung St. Mariens als City-Kirche und als Markt- und Bürgerkirche Osnabrücks ergaben.
Heute nur ist schwer vorstellbar, dass die Gemeinde damals auch noch eine Schwesterstation mit 2 Mitarbeiterinnen besaß, bevor die Kranken- und Pflegediakonie in die Sozial- und Diakoniestation des Kirchenkreises „auswanderte“ und später um 1972 ins Heywinkelhaus.
– Zahl der Gemeindemitglieder
Im Visitationsbericht von 1974 wurde die Zahl der Gemeindemitglieder mit 11500 angegeben.
– Besonderheiten (z.B. Kreise, Gruppen)
Abgesehen von der Feier des Gottesdienstes als der Mitte der Gemeinde hat das Gemeindeleben weitgehend in den 4 Pfarrbezirken stattgefunden und dabei durchaus ein partikulares Eigenleben geführt. Natürlich gab es auch übergemeindliche Angebote wie z.B. durch eine mit der 4. Pfarrstelle verbundenen qualifizierten Erwachsenbildung im „Offenen Abend“ und „Evangelischem Forum“. Aber eher als die großräumige Gesamtgemeinde boten die kleineren Lebens- und Wohnbereiche der Pfarrbezirke Raum und Gelegenheit für persönliche Beziehungen und Erleben einer christlichen Gemeinschaft. Jeder Pfarrbezirk hatte seine Konfirmandenarbeit, seine Freizeiten, seine Ausflüge, seine Frauenkreise mit je eigenem Kaffeegeschirr. Seine ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen prägten das jeweilige Profil und waren bereit, verlässlich die Besuchsdienste zu übernehmen, beim Austragen der Gemeindebriefe zu helfen oder bei festlichen Anlässen den Tisch zu decken. Teilhabe war in den Anfängen meiner Dienstzeit noch eher auf Lebenszeit und nicht projektbezogen auf Zeit angelegt.
3. Was sind für Sie die größten Veränderungen der vergangenen 50 Jahren in St. Marien?
– im Gemeindeleben
Die größte Veränderungen im Gemeindeleben sind die Folgen der immer konkreter erfahrenen Kirchenkrise mit ihrem Mitgliederschwund und den knapper werdenden Finanzmittel. Sie haben das Eigenleben der Pfarrbezirke beendet und Entwicklungen zur Zusammenarbeit und für neue Gemeindekonzepte angestoßen. Die statistischen Daten belegen diesen Veränderungsprozess:
Während 1974 die Gemeindegliederzahl mit ca.11500 angegeben wird , beträgt sie nach dem im Visitationsbericht von 2012 nur noch ca. 6000. Die 3. Pfarrstelle wurde 2001 aufgehoben, später auch die mit dem Ephorenamt verbundene 1.Pfarrstelle, sodass die verbleibenden 2 Pfarrbezirk neu gegliedert werden mussten.
Abschließend eine persönliche Randnotiz!
Als das 650 jährige Kirchweihfest gefeiert wurde, standen noch zwei Pfarrhäuser hinter der Marienkirche, in denen die Ehrengäste empfangen und bewirtet wurden. Heute wohnt kein Pastor mehr im Schatten der Kirche.
– am Gebäude der Marienkirche
Für alle sichtbar und erfahrbar sind die großen Veränderungen am Gebäude unserer Kirche durch die umfangreichen Außen- und Innenrenovierungsarbeiten von 1987 – 1990. Die Sandsteinsanierungen am Gewölbe und Säulen waren notwendig geworden, weil alte Kriegsschäden beseitigt und die gefährdete Bausubstanz wiederhergestellt und gesichert werden mussten. Die anschließende Innenrestaurierung verfolgte zwei Ziele:
Zum einen sollte ein schöner Raum für die die „schönen Gottesdienste des Herrn“ geschaffen und durch die Errichtung eines neuen runden Gemeindealtars Gemeinschaftserfahrungen gefördert werden.
Zum anderen sollte im Sinne einer Öffnung der Gemeindearbeit der Kirchenraum zu einer weiten begehbaren Begegnungsstätte umgestaltet werden – eben zur „Offenen Kirche am Markt“. Dafür musste die Chorumgehung „entrümpelt“ und die Bankreihen in den Seitenschiffen neu geordnet und z.T. entfernt werden.
4. An welche besonderen Momente in der Marienkirche während der Zeit Ihres Dienstes als Pastor erinnern Sie sich besonders?
– Schönes:
1. Schön ist, dass als kräftiges Lebenszeichen die Ökumene die Veränderungsprozesse nicht nur überlebt hat, sondern sogar beständiger und tiefer geworden ist. In den Begegnungen und im Miteinander mit der Kleinen Kirche haben wir die gelebte Tradition der katholischen Kirche kennengelernt und typisch konfessionell geprägte Gottesdienste ökumenisch gefeiert: 1986 den Reformationstag in St. Marien, 1987 und danach regelmäßig den Aschermittwoch in der Kleinen Kirche und 1989 den kath. Gedenktag „Peter und Paul“. Wenn wir heute neben dem ökumenischen Feiermahl regelmäßig Karfreitag zur Todesstunde Jesu und Pfingstmontag ökumenische Wortgottesdienste feiern, ist das ein beredtes Zeichen dafür, dass aus gewagten Aufbrüchen eine lebendige ökumenische Tradition werden kann.
2. Es war ein großer Tag für St. Marien, als am 3. Advent 1989 die Wiedereinweíhung der Marienkirche nach fast 3 Jahren Renovierungsarbeiten stattgefunden hat. Eine große Festgemeinde feierte mit vielen Ehrengästen aus Osnabrück, den benachbarten Gemeinden und aus unseren Partnerstädten Derby, Greifswald und Oelsnitz einen die Herzen und Seelen erhebenden Abendmahlsgottesdienst. Auf dem anschließenden Empfang bestand der neu geordnete Kirchenraum seine erste Bewährungsprobe als Begegnungsstätte – als „Offene Kirche am Markt“.
Es war auch ein historischer Tag für St. Marien. Am 9. November war die Mauer gefallen, die Grenzen offen. Zum ersten Mal konnten Gemeindeglieder aus unserer Partnergemeinde in Oelsnitz bei uns einen Gottesdienst mitfeiern. Es war emotional sehr berührend, als ihr Superintendent statt eines Grußwortes das Fürbittengebet betete, das am 4. November, wenige Tage vor dem historischen 9. Nov., eine große Demonstration auf dem Markt vor seiner St. Jakobuskirche in Stollberg beendete, und er die Festgemeinde bat, nicht nur für jede der 14 Fürbitten eine Kerze anzuzünden, sondern auch das Kyrie Eleison… anzustimmen.
Und es war auch ein großer Tag für die damaligen Kirchenvorsteher, die in vielen nächtelangen Sitzungen mitgeplant und in großen strittigen Fragen wie z.B. bei der Kirchenausmalung, der Farbgebung und der Beleuchtungskonzeption immer wieder zum Konsens gefunden haben. Das gemeinsame Werk hat uns zusammengeschweißt und über die aktive Zeit der Mitarbeit im Kirchenvorstand verbunden.
– Weniger Schönes:
Zu den weniger schönen Erinnerungen gehört ein Ereignis, das in der NOZ am 5.Juni.1980 für Schlagzeilen sorgte: “Atomenergie – Gegner besetzen St. Marien“. Am Mittwochnachmittag hatten sich etwa 200 überwiegend jugendliche Atomkraftgegner aus Protest gegen die Räumung des Anti-Atomdorfes in Gorleben gewaltsam Einlass in die Kirche verschafft und sich mit Schlafsäcken, Decken und Proviant „häuslich“ eingerichtet. Die Marktseite der Kirche dekorierten sie öffentlichkeitswirksam mit Protestparolen und einer überdimensionalen Fahne mit Totenkopf auf schwarzem Grund über dem Brautportal. Solidarität mit den Besetzern bekundeten u.a. die ESG (ev. Studentengemeinde) und die FOP (Freie Osnabrücker Pfarrkonferenz). Für Kirchenvorstand und Pastoren waren die Tage und Nächte bis zur Räumung am Samstagnachmittag herausfordernd und diskussionsstressig . Zur Beruhigung und Versachlichung der aufgeheizten Stimmung auf dem Marktplatz trug entscheidend bei, dass Kirchenvorstand und Pfarramt ihre Haltung und Handlungsweise durch tägliche Pressemitteilungen und Handzetteln öffentlich kommunizierten. In ihren Stellungsnahmen erklärten sie: „ Es entsprich dem Selbstverständnis unserer Kirche, allen Menschen friedfertig und offen zu begegnen und sie in ihrer Sorge um die Zukunft ernst zu nehmen…Diese Besetzung ist widerrechtlich und kein geeignetes Mittel um Meinungsverschiedenheiten in einer Demokratie auszutragen……Es ist undenkbar, dass in Zukunft welche Gruppen auch immer dieses zur legitimen Methode erklären…“
Mein Kommentar: Was 1980 noch für ein „undenkbares“ Mittel zur Durchsetzung politischer Meinungen und Interessen gehalten wurde, nämliche Rechte mit Gewalt zu verletzen, um sich Rechte zu ertrotzen, ist in den gesellschaftspolitischen Umbrüchen der Jahrzehnte danach zunehmend Realität geworden. Aus den Auseinandersetzungen um die Wahrung unseres Rechtsstaates wird sich die Kirche nicht heraushalten können. Es muss ja nicht gleich wieder eine Kirchenbesetzung sein!
5. Sie leben ja auch in Ihrem Ruhestand weiterhin in unserer Gemeinde. Und Sie nehmen oft an Gottesdiensten und anderen Veranstaltungen in unserer Kirche teil. Was gefällt Ihnen an Ihrer/unserer Marienkirche am meisten?
Ich habe das Privileg, Glauben und christliche Gemeinschaft in einer der schönsten gotischen Hallenkirchen Norddeutschlands zu leben, die mir in ihrer erhabenen Schönheit, mit ihren Gottesdiensten und ihrer Kirchenmusik, mit ihren Ausstellungen und themenorientierten Veranstaltungen viel Lebensqualität schenkt. Dem ehemaligen Prediger gefällt natürlich das vielfältige Predigtangebot, und dass Marien für mich ein Treffpunkt von Menschen ist, die mit mir in der Gemeinde alt und z.T. zu Freunden geworden sind.
6. Die Kirche im Allgemeinen, St. Marien im Besonderen – wie sehen Sie die Zukunft?
Unsere Kirche wird ärmer werden und die Mitgliederzahl weiter schrumpfen. Die traditionellen familiären Bindungen an St. Marien werden sich auflösen. Der gesellschaftliche Bedeutungsverlust nötigt, die Gemeindearbeit und ihre Möglichkeiten immer wieder neu zu justieren und zeitnah neue Formate zu entwickeln. In den letzten Jahren hat sich für den Kirchenvorstand der Arbeitsaufwand erheblich vergrößert, auch weil ihm immer mehr Entscheidungsverantwortung für immer mehr Aufgaben zugemutet wird. Umso größer ist meine Freude, dass sich auch in diesem Jahr wieder engagierte Frauen und Männer zur Kirchenvorstandswahl gestellt haben und bereit sind, sich der Sinnentleerung des Glaubens und der volkskirchlichen Auszehrung entgegenzustemmen. Das stimmt mich zuversichtlich.
Wie ich die Zukunft sehe? Ich bin kein Hellseher. Aber ich habe Gottvertrauen!